Auf den Spuren Frida Levys …

Studienfahrt in die lettische Hauptstadt

Als ich im Moos lag

Und kaum denken wag

Ob alles Leid vorbei

Und ich jemals verzeih

Was mir und anderen angetan

In diesem endlos langen Wahn

Runter in die Erde

Auf dass ich nie mehr werde

Der, der ich am Anfang war.

Silvia Froese

Frida Levy ist eine von Tausenden von Juden, die in Riga ermordet wurden. Auf ihren Spuren zu gehen, heißt, das Schicksal Aller mitzuerleben. Ich wurde überrascht davon, wie anders es ist, Biographien zu lesen oder Dokumentationen zu sehen oder – wie in Riga – da zu stehen, wo Tausende erschossen und – möglichst platzsparend – wie Ölsardinen in Gräben geworfen wurden. Das Geschehen war auf einmal absolut nah, verstärkt durch die Berichte des Zeitzeugen Izaks Kleimanis und die Darstellung dieser ermordeten Menschen mit Hilfe unzähliger Steine, naturbelassen und deshalb unterschiedlich in Farbe, Form und Größe. So wie auch die Juden unabhängig davon, ob sie Mann oder Frau, Kind oder Erwachsene … waren, ermordet wurden.

Birgit Schmidt

Gedenken an Frida Levy – im Wald von Bikernieki

Sechs Schülerinnen und Schüler, 24 Lehrerinnen, Lehrer, Eltern und Freunde unserer Schule, also eine Gruppe von 30 Personen, war zu Beginn der Osterferien vom 9.-14. April 2006 auf Frida Levys Spuren unterwegs. Hier einige Eindrücke von dieser bewegenden Reise:

Am 12. April 2006, vierundsechzig Jahre nach Frida Levys Tod, besuchte unsere Gruppe die Gedenkstätten der Juden von Riga: Hier ist Frida Levy umgebracht worden, wenn sie nicht schon durch die mörderische Zugfahrt nach Riga (25.-30.Januar 1942) den Tod gefunden hat. An diesem bewegenden Tag begleitete uns Izaks Kleimanis. Morgens besuchten wir die einzige Synagoge, die die Brandschatzung durch die Nationalsozialisten unbeschadet überstanden hat. Danach wanderten wir in den Stadtteil, wo das Ghetto war, die Moskauer Vorstadt. Wir standen inmitten der Überreste der größten Synagoge Rigas. Izaks Kleimanis erzählte, wie hier mit dem Gebäude über hundert Menschen von den Nazis und der lettischen Hilfspolizei verbrannt wurden. Ganz in der Nähe war der Eingang zum ehemaligen Ghetto, wo sich heute eine jüdische Schule befindet. Diese Schule ist mit hohen Zäunen geschützt, das Ghettoviertel ist zu einem sozialen Brennpunkt heruntergekommen. Der Weg führte uns durch die Ludzas Iela, damals die Leipziger Straße, die das doppelt eingezäunte deutsche Ghetto vom kleineren lettischen Ghetto trennte, heute eine stark befahrene Ausfallstraße. Am Ende der alte jüdische Friedhof, auf dem auch viele Opfer des Ghettos beigesetzt wurden. Aber in der sowjetischen Zeit nach 1944 gab es offiziell keinen Holocaust und so machten Planierraupen alles nieder, eine nichts sagende Grünanlage entstand.

„Die Massengräber beiderseits der Straße sind mit Steinen eingefasst und mit Stelen gekennzeichnet.“

Am Nachmittag fuhren wir mit dem Bus zunächst zur Gedenkstätte im Wald von Rumbula. Izaks Kleimanis erklärte uns, dass die Überlebenden bei der Einrichtung der Gedenkstätte Namen von Ermordeten angeben konnten, die in die Gedenksteine eingraviert wurden. Nach einigem Suchen fand er die beiden Steine, auf denen die Namen seiner Verwandten festgehalten sind. Dort legte er zwei Blumen nieder. Ein bewegender Augenblick. Danach erzählte er uns seine Geschichte in der Ruhe des Waldes. Dabei bezog er sich vor allem auf die jungen Menschen unserer Gruppe, denn als die Deutschen 1941 kamen, war er siebzehn, genauso alt wie unsere Schülerinnen und Schüler. Wir fuhren anschließend zum Wald von Bikernieki. Im sogenannten „Hochwald“ hatten von 1941 bis 1944 SS-Männer und ihre einheimischen Helfer über 40 000 deutsche, lettische, österreichische und tschechische Juden erschossen und verscharrt. Zu ihnen gehört wahrscheinlich auch Frida Levy. Die Massengräber beiderseits der Straße sind mit Steinen eingefasst und mit Stelen gekennzeichnet. Der befestigte Waldweg – der „Weg des Todes“ – wird gesäumt von Betonstelen mit Davidsstern, Kreuz und Dornenkrone. Der zentrale Gedenkplatz liegt in einer Mulde und besteht aus dem Mahnmal mit einem Gedenkstein aus schwarzem Marmor, umgeben von 5000 Steinen aus ukrainischem Granit. Die Steine sind zwischen 20 cm und 1,50 m hoch und erinnern an die hier ermordeten und in Massengräbern verscharrten Opfer. Kein Stein ist wie der andere. Mit ihren schwarzen, grauen und rötlichen Einfärbungen sollen sie den Opfern etwas von ihrer Individualität zurückgeben. Jeder hatte ein eigenes Leben, war eine eigene Persönlichkeit. Auf den Seiten des Gedenksteins steht in vier Sprachen:

„ACH ERDE, BEDECKE MEIN BLUT NICHT, UND MEIN SCHREIEN FINDE KEINE RUHESTATT!“ (HIOB 16; 18)

Hier versammelte sich unsere Gruppe und Izaks Kleimanis. Die Schülerinnen und Schüler hatten einen Text vorbereitet, den sie mit verteilten Rollen vortrugen. Der Text stammt aus einem der letzten Briefe Frida Levys, den sie schrieb, als sie schon von ihrer Deportation in den Osten wusste, den Tod vor Augen hatte. Die Stimmen der Vorleser wurden beim Vorlesen immer brüchiger, einem Mädchen versagte zuletzt die Stimme, ein anderes sprang für sie ein und las Frida Levys Abschiedsworte zu Ende. Wir alle waren tief bewegt und ergriffen von Traurigkeit. Zuletzt legte jeder eine Blume auf den großen schwarzen Marmorstein. Dreißig helle Blüten machten einen hoffnungsvollen Anblick an dieser Stätte des Todes. 

Ein Auszug aus dem Brief, den Frida Levy etwas mehr als drei Wochen vor ihrer Deportation an ihre Kinder in Schweden schrieb:

„Meine geliebten Kinder! Sylvester 41/42

Ein schweres, ereignisreiches Jahr für uns alle, für die ganze Welt! Ich habe die feste Hoffnung, dass das kommende Jahr der Welt den Frieden bringt, und ich glaube, dass dieser schreckliche Krieg einem sozialen Zeitalter die Bahn bricht, an dem Ihr noch mitarbeiten, in dem Ihr noch ernten könnt. Bleibt gesund undhoffnungsstark, über Kummer u. Sorgen hinaus. Und ich verspreche Euch, meine letzte Kraft zu sammeln, um vielleicht irgendwann und wo noch einmalmit Euch vereint zu sein. Ich war in diesen Wochen fast entschlossen, dem Schwersten aus dem Wege und lieber zu Vater zu gehen. Doch das kann man nur schweigend tun. Ich hatte aber übernommene Pflichten in andere Hände zulegen, Wichtiges zu ordnen, zu bestimmen. Da ließ ich mich umstimmen, ließ mir helfen bei den Vorbereitungen für ein anderes, hartes Leben und versuche, so tapfer zu sein wie die anderen. Ob ich Onkel Heinz und Grete wiedersehe, weiß ich noch nicht. Es wäre tröstlich. Es kann sein, dass ich noch einige Wochen hier bleibe. Jedenfalls werde ich aber schon in einigen Tagen mit allen notwendigen Sachen ausgestattet sein. Liebe Menschen halfen und helfen. Für mich ist das Schwerste nicht das Ein- sondern das Auspacken, das Auflösen, das ich ja schon ein wenig gewohnt bin. Doch diesmal geht es ans Letzte. All die äußeren Erinnerungszeichen halfen meinem schwachen Tatsachen-Gedächtnis. Nun wird sich zeigen, was tief genug verwurzelt ist und bleibt… Ich habe sehr, sehr viel mit Euch Zwiesprache gehalten, sehr überlegt, auf welche Weise ich Euch am wenigsten nachhaltig betrüben würde. Ich glaube, Ihr hättet auch den anderen Weg verstanden. Da hätte ich sogar Vieles retten können, was so verloren geht. Ich schrieb Euch viele Briefe, meist in Gedanken. Nun bin ich ganz ruhig, wie Ihr ja an der Handschrift seht, und ich bitte Euch innig, es auch zu sein, selbst wenn Ihr mal einige Zeit nicht von mir hört, so wie ich von Heinzens. Ich hoffe, Eure Antwort noch hier in der Wohnung zu bekommen und Euch noch öfter zu schreiben…Behaltet eure Lebenskraft und Freude am Leben! Mich hat eine unerschöpfliche Freude an jeglichem Schönen in der Natur, Kunst oder Idee immer wieder über alle Tiefen hinweg getragen. Ich glaube, Ihr habt etwas davon geerbt. Ich schaltdiese Eigenschaft früher oberflächlich, weiß aber lange, dass sie eine gute Gabe ist. Schont Eure Gesundheit! Sie ist die feste Grundlage für alles, das Ihr leistenwollt. In innigster Liebe und vollem Vertrauen zu Euch allen. Eure Mutter.“